Wer bin ich und wenn ja wie viele? Über Persönlichkeitstools im Arbeitskontext

„Der Philipp ist halt ein blaudominanter Typ, sehr gewissenhaft, extrem systematisch im Denken, aber als Teamplayer kannste‘ den vergessen. Der kann nicht so mit Menschen. Ist eher verschlossen und kommt nicht so empathisch rüber.“

Zack Schublade auf, Philipp rein, Schublade zu.

Egal wie sehr Philipp auch von innen gegen die Schublade tritt, er kommt da nicht mehr raus. Seit im Rahmen einer Teamentwicklungsmaßnahme alle den 3-Farbentypentest gemacht haben, „um sich und andere besser zu verstehen und typengerecht zu kommunizieren“ redet das ganze Team nur noch über Gelb-Rot-Blau.

Wenn Philipp im Quartalsmeeting hinterfragt, wie die Statistik berechnet wurde, rollt seine „rotdominante“ Teamleiterin mit den Augen und gibt zum Besten, dass er als „Blauer Typ“ seinen Hang zum Perfektionismus an dieser Stelle gerne zurückfahren dürfe.
Der nächste Agendapunkt thematisiert die Abwicklung eines zukünftigen Projekts: Eine Projektgruppe wird gesucht. Philipp gibt zu verstehen, dass er große Freude daran hätte, sich in das Projekt einzubringen…. Doch die Teamleitung wiegelt ab. In dieser Projektgruppe sollen „agile Arbeitsweisen“ erprobt werden, da würde Philipp als „Blauer“ mit seinem planvollen Handeln nicht so reinpassen und die Gruppe womöglich eher bremsen, er könne aber gerne die Rolle des Programmmanagers in einem anderen Projekt übernehmen. Da bräuchte man genau so einen Typen…

Schubladen und Chancen

Kommt dir bekannt vor? Falls nicht, gehörst du vermutlich zu einer Minderheit der arbeitenden Bevölkerung, die noch nicht analysiert wurde. Deine Chancen, dass deine Persönlichkeit irgendwann auf Farben reduziert oder mit einem „Typen“ überschrieben wird, stehen allerdings nicht schlecht.

Insbesondere dann nicht, wenn du dich auf eine neue Position bewirbst. Denn ein Viertel der deutschen Unternehmen wendet Persönlichkeitstests bereits im Rahmen von Auswahlverfahren an. Tendenz steigend. Aber es muss kein Stellenwechsel notwendig sein, um zu erfahren, welcher „Typ“ du bist. Auch im Rahmen von Teamentwicklungs-, Führungskräfteseminaren sowie Kommunikationstrainings greift man gerne auf sie zurück.

Der Gedanke dahinter, wenn ich weiß, welche Persönlichkeit in mir steckt, kann ich meine Persönlichkeit entwickeln. Oder entwickelt werden? Na – ist ja auch egal.

Next Level Selbstoptimierung

Und noch viel besser: Wenn ich ableiten kann, was meine Chefin, mein Chef-Chef und meine Kund:innen so für Typen sind, kann ich typgerecht kommunizieren und meine Ziele erreichen. Selbstoptimierung Next Level sozusagen.

So weit so gut? Leider nicht.

Philipp ist genervt. Dann halt nicht! Wäre er als derzeit einziger Stürmer in seiner Fußballmannschaft, wo er doch ständig improvisieren muss, eigentlich immer noch der „Blaue Typ“? Und wenn nicht, ist er dann das Paradebeispiel einer „Multiplen Persönlichkeit“?

Eine Differenzierung kann helfen.

Ein Ausflug in die Psychologie

Die Psychologie als Lehre des Erlebens und Verhaltens von Menschen beschäftigt sich im Zuge der Persönlichkeitspsychologie (Differentielle Psychologie) seit Jahrzehnten mit der Frage, warum Menschen so ticken, wie sie ticken, was Persönlichkeit überhaupt ist und woher Unterschiede zwischen Personen rühren.

In aller Kürze und ohne Anspruch an wissenschaftliche Genauigkeit stellen zu wollen, kann Persönlichkeit als die Anhäufung relativ stabiler Merkmale im Erleben und Verhalten von Menschen zusammengefasst werden. Eine Ebene tiefer, also in psychischen Funktionen gedacht, lassen sich Gewohnheiten, Temperament, Affekt, Stressbewältigungsmechanismen, Motive, Höhere Kognitionen und die Selbststeuerungsstile unter den Begriff der Persönlichkeit subsummieren.

An dieser Stelle deutet sich bereits die Komplexität an, die der Terminologie innewohnt. Insbesondere das populäre Modell der Big-Five suggeriert, dass sich Persönlichkeit auf 5 Eigenschaftsebenen verorten ließe (Offenheit für Erfahrungen, Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Neurotizismus). Erkenntnisse aus 20- jähriger Forschungspraxis und weit mehr als 3000 Studien zu den Big-Five legen zudem nahe, dass sich die Ausprägungen ab dem 30. Lebensjahr einer Person relativ konstant verhalten.

Ist der Coder der Persönlichkeit damit geknackt? Nein

Denn neuere Forschungen zum Thema „Persönlichkeit“ verdeutlichen, dass Persönlichkeitsunterschiede zwischen Personen zwar mittelfristig durchaus stabil sind, aber deutlich situationsspezifischer ausfallen als bisher angenommen.

Was bedeutet das nun für die Praxis? Um über Sinn und Unsinn von Persönlichkeitstools im Arbeitskontext konstruktiv streiten zu können, ist ein wesentlicher Aspekt auch die Qualität eines Tools.

Seriöse Tools wie der NEO-PI-R, der die Big 5 erhebt (rev. Fassung von Ostendorf und Angleitner, 2004), erfüllen die drei Hauptgütekriterien eines Tests an Objektivität, Messgenauigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) in zufriedenstellendem Maße. Letztere wurde empirisch überprüft. Ist beispielsweise die Validität eines Tools nicht gegeben, kann man nicht sicher sein, ob der Test misst, was er zu messen vorgibt.

Oder einfacher: In letzter Konsequenz kann dann nicht gesagt werden, ob beispielsweise Intelligenz, Aufmerksamkeit oder Konzentrationsfähigkeit gemessen wird. Und hier liegt ein Teil des Hasen im Pfeffer. Ein Gros der im Arbeitskontext eingesetzten Verfahren erfüllt diese Qualitätsansprüche nicht, weshalb ihre Aussagekraft und ihr Nutzen für die Praxis durchaus kritisch hinterfragt werden sollte.

Aber es konnte sich schon eine Mehrheit des Teams mit den Ergebnissen identifizieren, als wir den Test im Teamentwicklungsseminar durchgeführt haben, grübelt Philipp.

Kommen wir zu einem spannenden Punkt: Haben unwissenschaftliche Tools dann überhaupt einen Nutzen für ihre Anwender:innen?

Und wie so häufig lautet die Antwort: Es kommt drauf an.

In den meisten Fällen erfassen besagte Verfahren sehr vereinfacht Wahrnehmungs- und Verhaltenspräferenzen. Was sie an dieser Stelle leisten können, ist, dass das Ergebnis eines solchen Verfahrens einen Bezugspunkt ermöglicht, der zum Reflektieren einladen kann. Auf diesem Wege stellt sich ggf. die ein oder andere Frage, die sich vorher gar nicht gestellt hätte.

Im passenden Kontext (Coaching, geschützter Raum, im Austausch mit bestimmten (!) und selbst ausgesuchten (!) Personen) besteht zudem die Möglichkeit, Selbst- und Fremdwahrnehmung abzugleichen und bezugnehmend auf „das Ergebnis“ ins Gespräch zu gehen.

Zusätzlich sollte die Durchführung eines solchen Tools immer von einer Person begleitet werden, die das Ergebnis erklären, interpretieren und vor allem kritisch einordnen kann. Die gelebte Praxis sieht in weiten Teilen leider anders aus. Personen werden unter Missachtung des Freiwilligkeitsprinzips in Seminare verfrachtet, in denen sie neben Kolleg:innen, Teamleitung usw. ihr persönliches Profil transparent machen (müssen). Nicht nur, dass es in weiten Teilen an einer professionellen Begleitung fehlt. Ein solches Vorgehen in einem Seminar- oder Trainingskontext ist als im höchsten Maße übergriffig einzuordnen.

Warum übergriffig? Weil sich ein Gros der „betroffenen Personen“ in solchen Situationen gar nicht freiwillig und aus eigenem Interesse dazu entschieden hat, mit Arbeitskolleg:innen, Teamleitung und Co. über die eigenen Wahrnehmungs- und Verhaltenspräferenzen in den Austausch zu gehen.

Stimmt, denkt sich Philipp. Eigentlich möchte ich gar nicht, dass meine Teamleitung, die ja auch über Beförderung und Gehaltsanpassung entscheidet, Pseudo-Einblicke in mein Seelenleben erhält und daraus nachher Totschlagargumente formt, weshalb ich die Beförderung eben nicht bekomme…

Neben dieser häufig zu beobachtenden Übergriffigkeit, die solchen Situationen anhaftet, kommt noch ein weiterer kritischer Aspekt dazu: Durch die Art und Weise der Tools und die meist ausbleibende, aber so dringend notwendige Einordnung der Ergebnisse, wird „Persönlichkeit“ so unterkomplex dargestellt, dass sich die Beliebigkeit der Ergebnisse kaum leugnen lässt. Blöd nur, wenn entsprechend der Typisierung dann Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, damit Mitarbeiter:innenführung, Teamentwicklung und der lang ersehnte „Change“ endlich funktionieren können…

Was stattdessen?

Was im Rahmen der Diskussion über Persönlichkeit und Verhaltenspräferenzen häufig zu kurz kommt, ist die Berücksichtigung der Kontextspezifität von Verhalten. Als soziale Wesen haben Menschen von Klein auf ein natürliches Bestreben danach, sozial anschlussfähig zu sein und Ausgrenzung zu vermeiden. Im Laufe der Sozialisierung entwickelt der Mensch ergo feine Antennen dafür, wie er sich wo verhalten muss, um soziale Akzeptanz zu erzielen.

Wenn Philipp nun mit seinen Kumpels im Stadion beim Fußballspiel rumbrüllt und sich erzürnt, weil der Schiri (vermeintlich) ungerecht gepfiffen hat, ist das mit hoher Wahrscheinlichkeit anschlussfähig im sozialen System seiner Fußballkumpels, die sich ebenfalls lautstark aufregen. Weniger anschlussfähig ist Brüllen mit hoher Wahrscheinlichkeit im sozialen System Arbeit, wenn Philipp eine vermeintliche Ungerechtigkeit seiner Teamleitung wahrnimmt.

Kurzum: Anderes Sozialsystem, andere Spielregeln, anderes Verhalten.

Vor dem Hintergrund lässt sich auch die Sorge der multiplen Persönlichkeit auflösen. Denn bedenkt man, dass unterschiedliche soziale Systeme (Arbeit, Familie, Freundeskreis usw.) unterschiedliche soziale Spielregeln haben, lässt sich relativ gut erklären, warum Philipp in unterschiedlichen sozialen Systemen ganz unterschiedlich wahrgenommen wird.

Nix da multiple Persönlichkeit

Man könnte auch sagen, der jeweilige Kontext fördert mal stärker, mal schwächer eine bestimmte Persona (Facette) eines Menschen hervor. Oder ließe sich sonst erklären, warum es Menschen gibt, die in Abhängigkeit eines bestimmten Anrufers ihre Tonlage verändern? Ein Richtwert aus der sozialpsychologischen Forschung geht sogar so weit, dass sich ca. 93% des Verhaltens über den Kontext und 7% über die Persönlichkeit erklären lassen.

Was bedeutet das nun für Unternehmen?

Insbesondere Change-Management Initiativen oder Organisationsentwicklungsansätze, die am „Mindset“ der Personen oder an ihrer Persönlichkeit ansetzen, sollte durchaus kritisch hinsichtlich ihrer Wirksamkeit hinterfragt werden. Zu groß ist die Gefahr in Havarie zu enden. Wirklich wert( e)volle Lösungen lassen sich jedoch erzielen, wenn man sowohl die Rahmenbedingungen des sozialen Systems als auch die Menschen im Unternehmen berücksichtigt.

Denn spätestens seit des Selbstbestimmungstheorems von Deci und Ryan (2000) ist bekannt (und abgesichert) , dass intrinsische Motivation nicht direkt erzeugt werden kann. Die Wahrscheinlichkeit zur Entstehung intrinsischer Motivation steigt aber, wenn Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Autonomie-, Leistungserleben sowie soziale Eingebundenheit fördern.

Wer sich gerade also bei Gedanken á la „Meine Mitarbeiter:innen sind nicht motiviert.“, „Die Führungskräfte müssen ihre Softskills im Bereich Kommunikation stärken, damit wir weniger Konflikte haben.“ oder „Der Change stagniert, weil die Leute nicht das Mindset haben.“ ertappt, der/ die ist gut beraten, sich zu fragen, ob das beobachtete Verhalten auf die 7% (Persönlichkeit) oder vermutlich doch auf die 93% (Kontext) zurückzuführen ist. Insbesondere dann, wenn sich „unzufriedenstellende Verhaltensmuster“ („Die arbeiten gar nicht zusammen!“) personenunabhängig beobachten lassen.

Wer also wert( e) volle Organisationsentwicklung auf den Weg bringen will, tut gut daran, gemeinsam mit den Menschen ihre Arbeitskontexte auszugestalten und zukunftsfähig zu machen, statt an den Menschen zu arbeiten und in ihnen die Problemursache zu sehen.

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