Die Schärfentiefe der Vorhersehbarkeit von komplexen Problemstellungen

Wie die Kenntnis über die Bedeutung von Kompliziertheit und Komplexität helfen kann komplexen Problemstellungen klug zu begegnen.

Problemstellungen bestehen oftmals aus einer Mischung von zwei Bestandteilen. Zum einen sind dies Anteile, in denen bereits Wissen und Können über die mögliche Lösung vorhanden ist (komplizierte Anteile). Zum anderen sind dies Anteile für die eine gute Lösung erst noch entdeckt werden muss (komplexe Anteile). Gerhard Wohland hat dies u.a. in seinen Denkzetteln beschrieben. Das Wissen um den unterschiedlichen Umgang mit diesen Anteilen ist dabei von wesentlicher Bedeutung für eine kluge Problemlösung.

Komplizierte Anteile

Die komplizierten Anteile einer Problemstellung sind die Anteile, deren Lösung bereits bekannt sind. Sie zeichnen sich durch eine beherrschbare Anzahl an Varianten bzw. Handlungsoptionen (Varietät) aus. Sie sind vorhersehbar, reproduzierbar und durchdenk- bzw. durchdringbar. Es gibt einen klaren Bezug zwischen Ursache und Wirkung. Komplizierte Anteile sind somit schätz-, prognostizier- und planbar. Damit komplizierte Anteile einer Problemstellung gelöst werden können, braucht es Menschen, die Wissen über die Problemlösung haben und dieses Wissen auch anwenden können – sogenannte Könner. Wenn wirtschaftlich akzeptabel, können diese Anteile digitalisiert, sprich automatisiert werden. Komplizierte Probleme werden mit der Farbe Blau und dem Attribut tot in Verbindung gesetzt.

Bei blauen Problemen ist der Weg zur Lösung bekannt und planbar

Beispiele für dominant komplizierte Problemstellungen sind: die Konfiguration einer ERP-Software, der wiederholte Bau von Reihenhäusern, die Produktion von Messgeräten, das Schachspiel.

Komplexe Anteile

Die komplexen Anteile einer Problemstellung zeichnen sich dadurch aus, dass eine Problemlösung erst noch gefunden werden muss. Die Lösung kann von vornherein nicht vollständig verstanden werden. Es gibt zu viele Handlungsoptionen, Nichtlinearitäten und somit unbekannte Lösungsmöglichkeiten. Diese müssen erst durch weitere Erkenntnisse zu bekannten Lösungsmöglichkeiten gemacht werden. Eine Strategie zur Lösungsfindung ist notwendig. Kreativität und Ideen werden gebraucht, um diese neuen Lösungswege zu erarbeiten. Dies bedeutet, das in möglichst kurzen Ausprobier- und Lernzyklen kontinuierlich eine stetig besser werdende Lösung erstellt wird. Die Lösung entwickelt sich evolutionär, sie emergiert. Hierzu braucht es sowohl Könner als auch kreative Köpfe. Eine Automatisierung bzw. Digitalisierung der Lösungsfindung ist nicht möglich. Komplexe Problemstellungen sind rot und lebendig.

Bei roten Problemen muss der Weg zur Lösung in kurzen Regelkreisen gefunden werden

Beispiele für dominant komplexe Problemstellungen sind die Erstellung einer ERP-Software, der Bau eines Flughafens, die Entwicklung eines neuen Messgerätes, bis hin zur Gründung eines Startups.

Das Problem und die Vorhersagbarkeit

Menschen müssen ihre komplexe Umwelt für sich vereinfachen (abstrahieren) um ihr begegnen zu können. In komplexen Problemstellungen ist dies allerdings gefährlich, weil diese so simplifiziert werden, dass wichtige Informationen wegfallen können. Das Bedürfnis nach Sicherheit durch Planung z.B. aus terminlichen oder budgetären Gründen verstärkt die Gefahr. Wird versucht die komplexe Problemstellung durch komplizierte Problemlösungsmethoden wie z.B. Planung, Prozesse und Regeln in den Griff zu bekommen, bringen diese nichts anderes als eine gefühlte aber falsche Sicherheit. Diese vermeintliche Sicherheit begünstigt Fehlentscheidungen, die dummerweise noch mehr Probleme verursachen und wiederum durch intensivere Anwendung komplizierter Methoden gelöst werden sollen. Eine Spirale aus der es auszubrechen gilt.

Ein Beispiel für solche Handlungsmuster liefern Softwareentwicklungsprojekte mit innovativen Anteilen. Diese wurden und werden trotz besseren Wissens immer noch klassisch nach Wasserfall oder V-Modell abgearbeitet. Häufig durch das Bedürfnis getrieben möglichst genau vorhersagen zu können, wann was lieferbar bzw. einsetzbar ist und wie teuer etwas wird. Ein fataler Fehler, der in den Untersuchungen der Standish Group jedes Jahr wieder untermauert wird.

Schärfentiefe der Vorhersagbarkeit

Zur Verdeutlichung der Problematik der Vorhersagbarkeit ist in der folgenden Abbildung dargestellt, wie sich eine steigende Komplexität auf diese auswirkt:

Schärfentiefe der Vorhersagbarkeit

Bei einer Fotokamera ist es in der Regel so, dass je nach Blende und Fokus nur Teile des Bildes scharf sind, während andere Teile wie z.B. der Hintergrund eines Portraits unscharf erscheinen – die sogenannte Schärfentiefe. Analog hierzu verhält es sich mit dem Blick in die Zukunft. Je komplexer die Problemstellung und Problemlösung (je höher die Varietät) desto geringer die Schärfentiefe der Vorhersagbarkeit. Ist also die Problemstellung durch wenig Varietät gekennzeichnet und “nur” kompliziert, so ist die Sicht in die zeitliche Ferne weit und scharf. Pläne sind leicht erstellbar, langfristige Vorhersagen möglich. Aufgrund der geringen Anzahl möglicher und notwendiger Handlungsoptionen (zur Lösung der Problemstellung) können Handlungen prozessual geregelt werden. Im Gegensatz dazu stehen hoch innovative Problemstellungen in denen selbst auf kurze Sicht die Lösung unklar und unscharf ist. Exploration ist hier die Strategie um Unbekanntes zu Bekannten zu machen. Beide Extreme, und natürlich auch alle Bereiche dazwischen, erfordern demnach unterschiedliche Lösungsstrategien.

Analog zur örtlichen Tiefe bei der Fotografie steht die zeitliche Tiefe der Vorhersagbarkeit in komplexen Problemstellungen

Bei der Fotografie gibt es die Möglichkeit mittels des Fokus den Vordergrund unscharf und den Hintergrund scharf zu stellen. Dies ist beim Blick in die Zukunft leider nicht möglich, da die ferne Zukunft immer von vorherigen / nahen Ereignissen abhängt.

Das Zerlegen

Neue Problemstellungen zeigen ihre komplizierten und komplexen Anteile in der Regel nicht von alleine auf. Diese sind durch geeignete Methoden offenzulegen. Jedoch gibt es Verfahren, die dabei helfen die komplexen Anteile zu erkennen, ihnen frühzeitig zu begegnen und so die größten Probleme am Anfang einer Lösungsfindung zu behandeln.

Ein probates Mittel hierzu ist es, im ersten Schritt nähere Kenntnis über die Ursachen eines Problems zu gewinnen. Hierzu ist es z.B. sinnvoll sich in die Personen hineinzuversetzen, für die das Problem existiert. Beispielsweise könnten dies zukünftige Benutzer einer Software, Bewohner eines Hauses, Schachspieler, Gründer, etc. sein.

Diese Kenntnis über die Bedürfnisse kann dann hilfreich sein, das Problem in einzelne Teilaspekte, sogenannte Unterprobleme, zu zerlegen. Jeder Teilaspekt sollte hierbei für sich genommen Teilbereiche der Problemstellung lösen. Diese einzelnen Teilaspekte / Unterprobleme können nun wieder dahingehend betrachtet werden, ob bereits Wissen und Können für die Lösung vorhanden ist oder ob dieses erst noch gewonnen werden muss. Im ersten Fall können diese Anteile durchaus z.B. zeitlich geschätzt und geplant werden. Im zweiten Fall ist es notwendig genügend Erkenntnisse zu gewinnen, sie besser zu durchdringen und so auf der Skala von kompliziert zu komplex weiter nach “links” zu kommen.

Eine kluge Zerlegung lässt sich u.a. mittels etablierter agiler Methoden aus dem Bereich der Softwareentwicklung erreichen. Diese sind ohne Abstriche auch für nicht IT-Problembereiche geeignet. Hilfreich ist z.B.:

  • die Verwendung von Personas um ein gemeinsames Verständnis für die Probleme der Nutzer zu erhalten und so die zu lösende Problemstellung besser zu verstehen
  • die Durchführung von Story Mappings um die Probleme in kleinere Teilaspekte zu zerlegen, zu priorisieren und komplexe Teilprobleme (Komplexitätstreiber) zu identifizieren
  • die Verwendung von Prototyping bzw. Experimenten um die mit den komplexen Teilproblemen verbundene Unkenntnis zu Kenntnis zu machen
Zerlegen einer Problemstellung in Teilaspekte

Die frühzeitige Lösungsfindung der komplexen Teilaspekte durch intelligentes Prototyping ist der Schlüssel zur Begegnung komplexer Aufgabenstellungen. Hierbei kann jeder Prototyp wieder weitere neue komplexe und / oder komplizierte Teilaspekte hervorbringen.

Das hinter diesen einfachen agilen Methoden stehende Muster ermöglicht es kluge Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Diese minimieren Risiken frühzeitig und verbessern die Schärfentiefe der Vorhersagbarkeit ohne falsche Versprechungen zu machen.

2 Antworten auf „Die Schärfentiefe der Vorhersehbarkeit von komplexen Problemstellungen“

  1. Liebe Kurswechsler,
    vielen Dank für diese tolle Episode über komplizierte und komplexe Probleme. Ich fühlte mich sehr in mein Mathematikstudium zurück versetzt!
    Die meisten kennen die Mathematik dahingehend, dass es für jedes Problem ein „Kochrezept“ gibt, dass man lernen kann.
    Die Differentialgleichungen (unter anderem) machen uns hier allerdings einen Strich durch die Rechnung. Hier finden wir beliebig komplexe ( aber auch scheinbar „einfache“) Systeme, die sich nicht durch eine „Anleitung“ lösen lassen. Und selbst die Veränderung an nur Einer Stellschraube kann aus einem einfachen, lösbarem Problem ein komplexes Problem machen!
    Die Frage, wie löse ich dieses komplexes Problem, bleibt natürlich bestehen. Die Mathematik lehrt uns, dass wir das Problem in den Griff bekommen, wenn wir, das große Ganze in kleine bekannte Häppchen unterteilen. Hier kommt schon der erste Aha-Effekt! Können wir Eins der kleinen Probleme nicht lösen, so folgt sofort, dass das große Problem auch nicht lösbar ist. Fail early and fast! In der Realität wollen wir meist dennoch eine Lösung. Also müssen wir unsere Annahmen so abändern, dass unsere kleinen Probleme lösbar sind. Somit überführen wir das komplexe System in ein kompliziertes, also lösbares, System.
    Für viele komplizierte Differentialgleichungen gibt es Lösungsstrategien. In diesem Fall können wir also auf Bekanntes zurückgreifen und die Lösung unter verschiedenen Gesichtspunkten einordnen, ohne die Lösung selbst zu kennen.
    Ich konnte einfach nicht widerstehen, auch mal zu zeigen, dass es Prinzipien in der Mathematik gibt, die sich direkt auf die moderne Arbeitswelt übertragen lassen und die Mathematik nicht nur zu seiner selbst Willen gut ist .

  2. VIelen lieben Dank für Deinen Beitrag.
    Ich glaube, dass hier etwas zum Tragen kommt was uns die Welt aktuell nicht gerade erleichtert: die Definition des Begriffs “Komplex” bzw. “komplexe Problemstellung”. Es gibt hierzu nur kontextbezogene (z. B. Kontext Mathematik) eindeutige Definitionen, so dass sich daraus abgeleitete Lösungsstrategien nur teilweise auf andere Kontexte übertragen lassen. Eigentlich ist der Begriff autologisch – heißt der Begriff „Komplexität“ ist selbst wieder komplex… naja…
    Ich möchte hier aber ergänzend noch auf einen Blogbeitrag von Mark Lambertz verweisen. Mark erklärt dort u. a. den Unterschied der wahrgenommenen, selbstgebastelten Komplexität und der wirklichen, echten Komplexität (siehe http://intelligente-organisationen.de/beratersprech). Ich denke, dass dies in Ergänzung zu meinem Blogbeitrag und deinem Kommentar auch nochmal hilft das Thema tiefer zu durchdringen.
    Viele Grüße

    Frank

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